Jacques Lusseyran
Das wiedergefundene Licht
Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand.
S. 21
«
Die einzige Art, mich im Haus, im Garten oder am Strand leicht
fortzubewegen, war, gar nicht oder möglichst wenig daran zu
denken. Dann wurde ich geführt, dann ging ich meinen Weg, vorbei
an allen Hindernissen, so sicher, wie man es den Fledermäusen
nachsagt. Was der Verlust meiner Augen nicht hatte bewirken
können, bewirkte die Angst: Sie macht micht blind.
Dieselbe Wirkung hatten Zorn und Ungeduld, sie brachten alle in
Verwirrung.»
S. 30
«
Wie sollte ich zum Beispiel erklären, wie die Gegenstände
sich mir näherten, wenn ich auf sie zuging? Atmete ich sie ein,
hörte ich sie? Vielleicht. Was es auch war - es nachzuweisen war
oft schwer. Sah ich sie? Augenscheinlich nicht. Und doch! Sie
veränderten sich für mich im selben Maße, wie ich
näher kam, oft sogar so sehr, daß sich - genau wie beim
Sehvorgang - echte Konturen abzeichneten, daß sich im Raum eine
wirkliche Form abhob und einzelne Farben sich erkennen ließen.
Ich ging auf einer mit Bäumen gesäumten Landstraße, und
ich konnte auf jeden der Bäume entlang der Straße zeigen,
selbst wenn diese nicht in regelmäßigen Abständen
gepflanzt waren. Ich wußte, ob die Bäume gerade und hoch
waren, ob sie ihre Äste trugen wie ein Körper seinen Kopf
oder ob sie, zu Dickicht verfilzt, den Boden rings umher bedeckten.
Diese Tätigkeit pflegte mich freilich sehr schnell zu
erschöüfen, doch sie errreichte ihren Zweck. Und die
Ermüdung kam nicht von den Bäumen - ihrer Zahl oder ihrer
Form -, sondern aus mir selbst. Um sie auf diese Art
wahrzunehmen, mußte ich mich in einem Zustand halten, der von all
meinen Gewohnheiten so sehr abwich, daß es mir nicht gelang,
längere Zeit in ihm zu verharren. Ich durfte nicht die geringste
Absicht, auf sie zuzugehen, den geringsten Wunsch, sie kennenzulernen,
zwischen sie und mich stellen. Ich durfte nicht neugierig sein, nicht
ungeduldig, vor allem nicht stolz auf meine Fähigkeiten.
......
Was die Gegenstände mir mitteilten, war, wie bei der
Berührung, ein Druck, doch ein so neuartiger Druck, daß ich
zunächst nicht daran dachte, ihn so zu benennen. Wenn ich mich
ganz in die Aufmerksamkeit vertiefte und meiner Umgebung keinen eigenen
Druck mehr entgegensetzte, dann legten sich Bäume und Felsen auf
mich und drückten mir ihre Form ein, wie es Finger tun, die ihren
Abdruck in Wachs hinterlassen.
Diese Neigung der Gegenstände, aus ihren natürlichen Grenzen
herauszutreten, verursachte Eindrücke, die ebenso deutlich waren
wie Sehen oder Hören. Ich brauchte allerdings mehrere Jahre, um
mich an sie zu gewähen, sie ein wenig zu zähmen. Noch heute
bediene ich mich - wie alle Blinden, ob sie es wissen oder nicht - eben
dieser Eindrücke, wenn ich mich in einem Haus oder im Freien
allein bewege. Später las ich, daß man diesen Sinn den "Sinn
für Hindernisse" nenne und daß gewisse Tierarten,
Fledermäuse zum Beispiel, anscheinend bis zu einem sehr hohen Grad
damit ausgestattet seien.
Zahlreiche Überlieferungen über okkulte Erscheinungen
berichten sogar, daß der Mensch über ein drittes Auge
verfügt, ein inneres Auge - im allgemeinen "Auge des Shiva"
genannt - , das sich auf der Mitte seiner Stirn befindet und das man es
unter gewissen Umständen und durch gewisse Übungen wecken
kann. Schließlich haben Untersuchungen des französischen
Schriftstellers und Akademiemitglieds Jules Romain gezeigt, daß
es auch eine außerhalb der Retina liegende visuelle
Aufnahmefähigkeit gibt, die ihren Sitz in gewissen Nervenzentren
der Haut hat, vornehmlich in den Händen, der Stirn, im Nacken und
auf der Brust.»